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Gremien in der Raumentwicklung

Entscheidungs- oder Beratungsgremien sind nicht mehr aus Planungsprozessen wegzudenken. Neben den etablierten Gestaltungsbeiräten oder Stadtbildkommissionen sind es zunehmend interdisziplinäre Gremien, die zum Einsatz kommen, beispielsweise um Aspekte der sozialen Nachhaltigkeit in Planungsprozessen zu berücksichtigen. Diese standen im Mittelpunkt eines Forschungs- und Entwicklungsprojektes, welches im Herbst 2022 abgeschlossen wurde.

Warum braucht es solche Gremien?


Bei der Planung und Umsetzung neuer Gebäude, Siedlungen und Quartiere sind – insbesondere im Zuge der geforderten Verdichtung nach innen – immer komplexere Entscheidungen zu treffen. Die Komplexität wird unter anderem dadurch erhöht, dass immer mehr im Bestand gebaut wird, Boden knapp wird, die Eigentümer:innenstrukturen vielschichtiger werden und dadurch auch immer mehr Akteur:innen eingebunden werden müssen.

Wir haben es also mit hochkomplexen Problemstellungen bzw. Aushandlungsprozessen zu tun, so Jan Silberberger, einer der Experten die das Projekt begleitet haben. Und ab einer gewissen Tragweite, so Silberberger weiter, treffen in der Raumentwicklung unweigerlich ökonomische Verwertungslogiken auf ökologische Zielsetzungen, gesellschaftliche und individuelle Vorstellungen von Zusammenleben und Lebensqualität auf politische Regulation sowie bestehende Siedlungsgefüge und (Verkehrs-)Infrastrukturen auf Möglichkeitsräume.

Inter- oder transdisziplinäre Gremien können damit in erster Linie als Instrumente gesehen werden, die den Austausch und die Kollaboration zwischen allen Akteur:innen, die in Planungsprozesse involviert sind, verbessern – oder vielleicht erst möglich machen. Zudem können – so Silberberger – Gremien zur Nachvollziehbarkeit von Planungsprozessen in der Bevölkerung beitragen, bspw. indem Sie Prozesse verständlich – d.h. ohne Fachjargon – kommunizieren und thematisieren.

Gremien leisten ausserdem einen wichtigen Beitrag zu gelingenden Planungsprozessen, indem sie mögliche Interessenskonflikte frühzeitig erkennen und die Gemeinden aus ihrer unabhängigen Position heraus unterstützen können, so Anne Brandl (Leiterin Stadtentwicklung Chur), eine weitere Expertin, die uns im Projekt begleitet hat. Gremien können auch eine qualifizierende Funktion einnehmen, indem sie Lösungen für die Gestaltung von Prozessen aufzeigen, weitere Fachleute vorschlagen oder bisher vernachlässigte Aspekte in Planungsprozesse einbringen.

Alois Humer, der dritte Experte, der das Projekt begleitet hat, meint, dass im besten Fall solche inter- oder transdisziplinäre Gremien zu mehr Transparenz, Partizipation, Meinungsaustausch und Abwägung und somit zu gesellschaftlicher Legitimation von Raumplanungsentscheidungen beitragen.

Gleichermaßen deutet das Projekt darauf hin, dass es zahlreiche Vorbehalte gegenüber solchen Gremien gibt. Beispielsweise besteht insbesondere bei Gremien mit empfehlendem Charakter oft die Befürchtung, dass durch Gremien Planungsvorhaben komplizierter werden und sich diese in die Länge ziehen und auch teurer werden. Oder es bestehen Vorbehalte, sie können anderen Gremien (wie etwa Jurys bei Wettbewerben oder Planungsausschüssen in den Gemeinden und Städten) widersprechen oder in Konkurrenz dazu stehen, weshalb sie teilweise bei anderen involvierten Akteur:innen auf Widerstand stossen.

Mitglieder von Gremien selbst berichten von der Befürchtung, dass ihre Empfehlungen teilweise nicht „gehört“ werden und in der Schublade landen. Und es stellen sich auch viele Fragen hinsichtlich der passenden Zusammensetzung (Multidisziplinarität, Alter, Gender, Diversity, Erfahrungshintergründe etc.), der Arbeitsweise, den Einsatzbereichen und Einsatzzeitpunkten solcher Gremien – noch ein Grund, warum Vorbehalte gegenüber solchen Gremien bestehen.

Projekt

Im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojekts Raumentwicklung 4.0, das von den Abteilungen Raumplanung und Baurecht sowie Wohnbauförderung des Landes Vorarlberg finanziert wurde, haben wir (Eva, Johannes und Nicola) einige Gremien untersucht, mit der Frage welche Herausforderungen und Erfolgsfaktoren es denn gibt. Dabei haben wir über 50 Gremien gesammelt und grob analysiert. Davon wurden in weiterer Folge vier Gremien ausgewählt, die sich v. a. durch ihre inter- und transdisziplinäre sowie innovative Arbeitsweise auszeichnen. Diese wurden in vertieften Case-Studies untersucht.

Ergebnisse

Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl bei der Gründung und Institutionalisierung von Gremien als auch bei ihrer tagtäglichen Arbeit an vielen Stellschrauben gedreht werden kann. Diese beziehen sich sowohl auf ‚harte‘ als auch auf ‚weiche‘ Faktoren. Wie ist das Gremium an andere Verwaltungsstellen und Gremien gekoppelt? Mit welchen Ressourcen ist es ausgestattet? Wie lange dauern die Gremienmitgliedschaften?

Diese Fragen adressieren ‚harte Faktoren‘; mit den für das jeweilige Gremium passenden Antworten kann schon viel zum Gelingen der Gremienarbeit beigetragen werden. Daneben gibt es aber auch eine grosse Palette an ‚weichen‘ Faktoren, die nicht von langer Hand geplant werden können. Wer redet aus welcher Rolle mit welcher Erfahrung mit? Wer kennt wen und ist auf wen wie gut zu sprechen? Wer hat Einfühlungsvermögen und Führungsqualitäten?

Die umfangreiche Recherche von Gremien im deutschsprachigen Raum hat deutlich gemacht, dass Gremien nicht mehr ‚nur‘ rein politisch oder ‚nur‘ aus einer Fachdisziplin herausgebildet werden. Vielmehr wird den zunehmend komplexer werdenden Fragestellungen auch mit einer zunehmenden Vielperspektivität begegnet.

In zeitgemässen Gremien sind unterschiedliche Fachdisziplinen von der Architektur, der Stadt-, Raum- und Verkehrsplanung über die Ökonomie und Rechtswissenschaften bis hin zu Sozialwissenschaften eingebunden.
Interdisziplinarität – so die Expert:innen der Begleitgruppe heisst nicht nur "sich problembezogen auszutauschen und jeder gibt seine Expertise ab, sondern es bedeutet Routinen zu verlassen und ergebnisoffener mit einem Problem umzugehen", wobei "Interdisziplinarität selbstverständlich nicht nur Landschaftsarchitektur, Raumplanung und Architektur meint". Dadurch wächst der Wissenspool über die zu bearbeitenden Aufgaben, es kann leichter mit den vielfältigen Partner:innen kommuniziert werden, und Entscheidungen von Gremien erhalten so eine höhere Bedeutung bzw. ihre Empfehlungen für politisch Entscheidungstragende sind auf eine breitere Basis gestellt.

Im Projekt legten wir zudem einen Schwerpunkt auf die Frage ‘des Sozialen‘ in der Gremienarbeit. Wir haben uns damit beschäftigt, was im konkreten Fall ‘soziale Aspekte‘ sind und wie eine sozialräumliche Perspektive in der Gremienarbeit verankert werden kann. Dabei hat sich gezeigt, dass ‘das Soziale‘ in jedem Gremium neu verhandelt werden muss; es ist ein vielfältiger und wandelbarer Begriff, der in den Gremien unterschiedlich interpretiert und gehandhabt wird, aber in allen Gremien eine grosse Rolle spielt. Fragen der Beteiligung von Neuzugezogenen in einem Quartier sind dabei ebenso wichtig wie die Situierung und Gestaltung von Gemeinschaftsräumen bis hin zu den Betriebs- und Wohnkosten bzw. zum Thema der Leistbarkeit. 

Publikationen

Ein Teil unserer Ergebnisse ist gerade im internationalen peer-reviewten Fachjournal „Urban Planning“ erschienen. Die Publikation ist frei für alle verfügbar unter diesem link.

Der gesamte Projektbericht ist in der Schriftenreihe «Materialien» der Abteilung Raumplanung und Baurecht des Landes Vorarlberg veröffentlicht worden.

Studientag

Am 16.6.2024 fand ein Studientag zum Thema Gremien im vai Vorarlberger Architekturinstitut statt.

Impulse lieferten Tamara Ehs (Thema: demokratiepolitische Bedeutung von Gremien & Perspektive Bürger|innen), Nicola Hilti und Johannes Herburger (Thema: Gremien in der Raumentwicklung, Einordnung, Erfolgsfaktoren) und Jan Silberberger (Thema: Wettbewerbe & Jury). Eva Lingg-Grabher konzipierte den Studientag gemeinsam mit dem vai sowie der Abteilung Raumplanung und Baurecht.

Gremien, so zeigte es sich, sind heute zunehmend inter- oder transdisziplinär und öffnen sich auch in Richtung Bürger:innen oder sollten es tun. Denn Raumentwicklungsprojekte sind, so die Referentin Tamara Ehs, vorrangige Partizipationswünsche der Menschen. Raum und wie er organisiert, geplant, gestaltet und genutzt wird, betrifft und interessiert uns alle. Bürger:innen sind die Expert:innen des Alltags, Städte und Gemeinden sind damit aufgefordert, sie in geeigneter Form teilhaben zu lassen an der Gestaltung, etwa um das kommunale Miteinander zu stärken, um die politische Bildung voranzutreiben und damit auch das Verständnis für Politik und Entscheidungsprozesse zu verbessern.

Gremien können hier auch einen Beitrag leisten, indem sie zum Beispiel mit Bürgerräten oder anderen bürgerschaftlichen Initiativen zusammenarbeiten, oder wenn sie so zusammengesetzt sind, dass sie die Bevölkerung möglichst gut repräsentieren.

Die Diskussion beim Studientag zeigte die Aktualität des Themas auf, Podiumsgäste wie auch das Publikum diskutierten rege miteinander. Wie können bestehende Gremien gestärkt werden? Wie können Politik, Verwaltung und Expert:innen glaubwürdig zusammenarbeiten und dies auch nach außen zeigen? Wer hat die Macht in Raumentwicklungsprozessen, wo stehen Gremien? Wo sollte es Mitwirkungsmöglichkeiten geben innerhalb eines Entwicklungs- oder Planungsprozesses? Wie können wir den „Planungsjargon“ aufbrechen, um besseres Verständnis zu erhalten, insbesondere wenn unterschiedliche Disziplinen zusammenarbeiten? Wie können wir Planung mehr in Richtung „lernender Prozesse“ weiterentwickeln? Viele Fragen, die anregten am Thema weiter zu denken und an der Weiterentwicklung von Gremien dranzubleiben, wie es auch die Raumplanerin Andrea Schemmel aus Bern forderte.

Generell sollte unser Umgang mit Räumen vielfältig und offen sein, um die verschiedenen Dynamiken einer Gesellschaft aufzunehmen und zu ermöglichen. „Nicht fertig denken, entwickeln“, war ein Statement von Architekt und Planungsforscher Stefan Kurath, ein schöner Abschlussgedanke für die Veranstaltung. 

Projektteam

Das Projekt wurde im Rahmen unserer Tätigkeit am IFSAR Institut für Soziale Arbeit und Räume der OST – Ostschweizer Fachhochschule sowie dem Institut für Architektur und Raumentwicklung der Universität Liechtenstein umgesetzt.

Johannes Herburger, Nicola Hilti, Eva Lingg-Grabher & Madeleine Vetterli

Beitrag von Johannes Herburger und Eva Lingg-Grabher
Bereit für die neue Art der Raumentwicklung?
Wir freuen uns auf spannende Projekte, räumliche Herausforderungen, inspirierende Dialoge und neue Synergien.
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